Gesichter des Leidens – Andachten zur Passionszeit 2021 – Carlow & Demern
21. März - 5. Sonntag der Passionszeit – Sicherheitskräfte
Die sieben Wochen vor Ostern erinnern an den Leidensweg Jesu – ein Weg des Mitleidens & der Solidarität, der andere Leidenswege gekreuzt hat. Die Passionsandachten & - Predigten lenken 2021 den Blick auf verschiedene Personen der Passionserzählung. Am 5. Sonntag der Passionszeit bewegen sich die Predigtgedanken zwischen dem Hilferuf einer bedrängten Person – „Schaffe mir Recht, Gott!“ (dem Wochenspruch aus Psalm 43) - und denen, die als Sicherheitskräfte das Recht der Stärkeren durchsetzen.
Sie kommen nachts
Sie kommen nachts. Geflüchtete, deren Asylantrag abgelehnt wurde, wissen das. Ruhig schlafen? Wenn Abschiebung droht? Nachts oder wenn schon fast der Morgen graut, kommen die, die Abschiebung sichern sollen. Nicht alle ergeben sich in ihr Schicksal. Manche laufen weg. – Sie kommen nachts. Jesus betet in Gethsemane: „Lass diesen Kelch vorübergehen.“ (Mk14,36) Nicht alle ergeben sich, es gibt Gewalt in der Nacht. Und Jesus sagt: „Wie gegen einen Straßenräuber seid ihr mit Schwertern und Holzknüppeln hergekommen, um mich festzunehmen. Jeden Tag war ich bei euch im Tempel … Dort habt ihr mich nicht festgenommen.“ (14,49,f.) Ob sie geantwortet haben, ihn über seine Rechte belehrt, ihn zum Schweigen gebracht haben? Es wird nicht erzählt. Sie nehmen ihn fest. Sie liefern ihn aus. Sicherheitskräfte. Sie machen nur ihren Job. Einer muss es machen. – Wachwechsel.
Ausgeliefert – Lesung aus dem Evangelium nach Markus (15, 16- 24.33-36)
Die Soldaten führten Jesus ab in den Hof der Residenz, das sogenannte Prätorium, und riefen die Besatzungstruppe zusammen. Sie hängten ihm einen purpurfarbenen Mantel über und flochten eine Krone aus Dornenzweigen und setzten sie ihm auf. Sie jubelten ihm zu: „Hoch lebe der König der Juden!“, schlugen ihn mit einem Stock auf den Kopf und spuckten ihn an, beugten die Knie und warfen sich vor ihm nieder. Nachdem sie ihn verspottet hatten, zogen sie ihn den Mantel aus und seine eigenen Kleider wieder an. Und sie führten ihn hinaus, um ihn zu kreuzigen. Da kam ein Mann vorbei, Simon aus Kyrene (…), den zwangen sie, ihm das Kreuz zu tragen. Und sie brachten ihn zu der Stelle, die Golgatha heißt, übersetzt: Schädelstatte. (…) Sie kreuzigten ihn und teilten seine Kleider, indem sie das Los darüber warfen, wer was bekommen sollte. (…) Es war die sechste Stunde des Tages, da breitete sich im ganzen Land Finsternis aus. Das dauerte bis zur neunten Stunde. In der neunten Stunde schrie Jesus laut: „Eloi, eloi, lema sabachthani?“, übersetzt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Da sagten einige, die dabeistanden: „Seht! Er ruft Elia.“ Einer lief, tauchte einen Schwamm in Essig, steckte ihn auf einen Rohrstock und hielt ihn Jesus zum Trinken hin, wobei er sagte: „Wartet! Wir wollen sehen, ob Elia kommt und ihn herunternimmt.“
Sonderrechte
Es gehört zum bösen Spiel der Macht: die Sicherheitskräfte erhalten Sondervollmachten – wie in diesen Tagen in Myanmar die Militärs, die den Protest zum Schweigen bringen sollen. Oder sie beugen das Recht & werden allzuoft nicht zur Rechenschaft gezogen – wie in diesen Tagen in Mineapolis, der acht Minuten lang George Floyd zu Boden gedrückt hat, sodass er nicht mehr atmen konnte. Sie setzen brutal das Recht der Stärkeren durch – wie seit zehn Jahren in Syrien; oder in diesen Tagen in London, wo eine Mahnwache aufgelöst wird, nachdem mutmaßlich ein Polizist eine Frau getötet hat. Es gehört zum Spiel der Macht, dass die, die Macht durchsetzen, (nicht immer, aber immer wieder) die Würde derer missachten, die ihrer Willkür ausgesetzt sind.
Sie machen nur ihren Job
Sicherheitskräfte: sie verhöhnen Jesus, alle zusammen; das verbindet, eine Art Corpsgeist. Dann führen sie ihn zur Hinrichtung, zwingen einen zur Zwangsarbeit. Sie machen nur ihren Job, führen Befehle aus, kreuzigen Jesus & noch ein paar Aufständische. Wie viele mögen es gewesen sein an jenem Tag? Befehl ist Befehl. Dienst ist Dienst. Spaß muss sein. „Hoch lebe der König der Juden!“, aber nicht mehr lang. Das Leben geht weiter: sie spielen um seine Kleider. Das gehört zur Bezahlung. Sie machen ihren Job. „Arbeitsplätze sichern“ – das war schon immer eine Totschlag-Argument. Die einen sterben, die anderen leben davon: von Rüstungsexporten, Hinrichtungen, Folter.
Eine_r muss es ja machen
Sicherheitskräfte: sie halten den Kopf hin – für dich & für mich. Einer muss es ja machen. Sie sichern die Demokratie, aber auch die Tyrannei. Sie werden gut ausgebildet, rechtsstaatlich geschult, halten den Kopf hin. Sie erleben Gewalt & setzen das Recht durch. Immer wieder, aber nicht immer, sind sie auch das freundliche Gesicht der Staatsmacht, sind Beistand & Trost. Sie halten den Kopf hin & geben der Macht ein Gesicht. Und manchmal verstecken sie es, klappen Visiere runter, bilden verdeckte Netzwerke, vertuschen, verschleiern, können nicht erklären, warum der Notruf ausfiel an dem Abend, als in Hanau 13 Menschen ermordet wurden. Sicherheitskräfte: Männer & Frauen mit Waffen für Ruhe & Ordnung, für dich & für mich. Sie verkörpern den Zwiespalt, der aufbricht, wo Gewalt ausgeübt wird.
Mitläufer
Viele sehen zu. Viele machen mit, führen nur Befehle aus. Viele missbrauchen ihre Macht. Viele kommen damit durch; kommen davon, ohne jemals zur Rechenschaft gezogen zu werden. Aber manche werden vor Gericht gestellt – auch weit weg von dem Ort des Machtmissbrauchs, noch Jahrzehnte nach den Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Folterer aus Syrien werden in Koblenz verurteilt; Buchhalter_innen des Todes & Wachleute stehen in Hamburg & Hannover vor Gericht für das, was sie mit ermöglicht haben in Konzentrationslagern. Sicherheitskräfte: manchmal sind das die Gerichte, die Ermittler_innen & Zeug_innen, die dem Unrecht nicht das letzte Wort lassen.
Zeug_innen
Viele sehen zu. Viele leiden mit. Wenn die Bewaffneten kommen, nachts in Myanmar, fangen sie an, die Töpfe zu schlagen. Wo Recht zu Unrecht wird, machen sie Bilder, machen den Mund auf. Whistleblower legen den Finger in die Wunde – sie können nicht sicher sein, dass niemand sieht, wenn sie die Macht missbrauchen; dass niemand es sagt. Sogar aus dem Prätorium, wo die Soldaten mit Jesus unter sich waren, wurde berichtet. Auch, wenn sie nicht wissen, was mit den Ihren geschehen ist, stehen die Frauen mit Fotos der Verschwundenen auf der Plaza del Mayo; fordern die Angehörigen der verschleppten Studenten in Mexiko Aufklärung, werden nicht stumm. Sie stehen als Zeug_innen gegen das Unrecht. Und da war einer, der es bezeugt hat; der Hauptmann am Kreuz hat es genau gesehen & gesagt: „Dieser war wirklich Sohn Gottes.“ (Mk 15,39) Da war Jesus schon tot. Trotzdem.
Du kannst immer wählen
Sicherheitskräfte: Frauen & Männer mit Waffen, in Uniform oder zivil, Zeug_innen, Institutionen des Rechts. Sie sichern im Tod noch das Grab, bewahren Kontrolle – wie du, wie ich. Auf welcher Seite stehst du? Wie erschüttert der Tod deine felsenfeste Überzeugung? Was bewirkt dein Reden? Und dein Schweigen? – Du kannst immer wählen. Du kannst das Schweigen & die Macht des Todes brechen, die Angst überwinden. Du kannst Briefe gegen das Vergessen schreiben, Sicherheitskräfte gegen den Machtmissbrauch mobilisieren. Lass die, die wie Jesus am Kreuz gottverlassen fragen „Warum?“, wissen, dass du sie nicht verlässt. Mit deiner Kraft für ihre Sicherheit. Wenn wir die alten Geschichten erzählen, Jesus & die Opfer von Willkür & Gewalt nicht vergessen, kann daraus neue Kraft entstehen, die dafür eintritt, dass auch die Schwachen in Sicherheit leben. Amen.
Fürbitten (mit Bitte um Ergänzung)
Ach Gott, zerrissen ist die Welt, ihr Antlitz entstellt von Gewalt. Verachtet werden die Regeln zum Schutz der Schwachen, verachtet werden deine Menschenkinder, die Schöpfung ächzt unter Achtlosigkeit. Wir klagen an, bezeugen & bitten um dein Erbarmen: Kyrie eleison.
Für die, die gezwungen werden – mit Gewalt, durch wirtschaftliche Not, von eigenen Ansprüchen: für Kindersoldaten in blutigen Kriegen, prekär Beschäftigte, ruhelos Tätige, bitte ich um dein Erbarmen: Kyrie eleison.
Für die, die verzweifelt sind, schutzlos der Gewalt ausgeliefert, verschleppt, beschossen gefoltert: im Jemen, in Myanmar, Syrien, China, Mexiko, in den Gefängnissen & Lagern. Lass sie nicht allein. Lass uns hinsehen & nicht schweigen. Schenke Sicherheit & Kraft & Frieden. Schaffe Recht, Gott. Kyrie eleison.
Gesichter des Leidens – Andachten zur Passionszeit 2021 – Carlow & Demern
14. März - 4. Sonntag der Passionszeit – Das Weizenkorn
Die sieben Wochen vor Ostern erinnern an den Leidensweg Jesu – ein Weg des Mitleidens & der Solidarität, der andere Leidenswege gekreuzt hat. Die Passionsandachten für die Sonntage der offenen Kirche richten den Blick auf verschiedene Personen der Passionserzählung. Im Wochenspruch & im Evangelium für den vierten Sonntag der Passionszeit spricht Jesus vom Weizenkorn. In der Mitte der Passionszeit steht nicht eine Person der Geschichte im Mittelpunkt, sondern ein Pflanzenteil als Bild für das Leben im Wandel.
Vom Weizenkorn - Lesung aus dem Evangelium nach Johannes (12, 20 – 25)
Bei denen, die nach Jerusalem heraufgekommen waren, um beim Fest zu beten, waren einige Griech_innen. Die gingen zu Philippus aus Betsaida in Galiläa und fragten ihn: Herr, wir wollen Jesus sehen. Da ging Philippus los und sagte es Andreas, Andreas und Philippus gingen los und sagten es Jesus. Da antwortete Jesus ihnen und sagte: Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn in seiner Klarheit sichtbar wird. Amen. Amen, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn, das auf die Erde fällt, nicht stirbt, bleibt es allein. Aber wenn es stirbt, bringt es viel Frucht. Wer sein Leben liebt, wird es verlieren. Aber wer das Leben in dieser Welt hasst, wird es bis in das ewige Leben bewahren.
Grenzüberschreitende Hoffnung
Die Grenzen sind enger geworden im vergangenen Jahr. Für andere waren sie vorher schon dicht. Von denen, die sich aufs Meer wagen, um einen Hoffnungshorizont zu erreichen, hören wir, dass sie oft zurückgedrängt werden – wenn wir nicht Todesnachrichten hören. Trotzdem: Menschen machen sich auf den Weg, angetrieben von der Hoffnung. Heute kommen sie an die griechischen Küsten, nach Madrid & sogar nach Berlin. Sie erhoffen sich eine bessere Zukunft & Chancen für die Gegenwart. Damals gingen sie nach Jerusalem. Sie kamen, um zu feiern, dass es auch anders geht. Sie kamen trotz der schwierigen politischen & sozialen Lage in diesem Teil des römischen Imperiums, weil sie darauf vertraut haben: Gott sieht das Elend der kleinen Leute. Gott zeigt Auswege aus den Strukturen des Unrechts & der Gewalt. Das gilt immernoch. Noch heute wird das Passahfest als Ausdruck der Hoffnung gefeiert, dass Gott diese Generation jetzt (!) aus ausbeuterischen Verstrickungen befreit; dass Gott Wege weiß & Wege weißt, die Strukturen von Machtmissbrauch, Korruption & Gewalt zu überwinden. Solche Hoffnung überschreitet Grenzen.
Grenzüberschreitende Kommunikation?
Bei denen, die zum Fest gekommen waren, erzählt Johannes, waren einige Griech_innen. Sie haben ein Anliegen: Sie wollen Jesus sehen. So weit, so verständlich. Auch ohne die sozialen Netzwerke der digitalen Welt, hatten sich Nachrichten über Jesus verbreitet. Auch ohne unsere Technik gab es Netzwerke der Kommunikation. Die griechische Pilgergruppe wendet sich an Philippus, der spricht Andreas an & gemeinsam gehen sie zu Jesus. Und? Kriegen die Griech_innen, was sie wünschen? Können sie Jesus sehen? Johannes ist an dieser Stelle sehr sparsam mit Informationen. Er erzählt nichts über eine Begegnung, klebt auch keine Fotos ein. Nur die Antwort Jesu gibt er wieder: „Die Zeit ist gekommen, dass der Menschsohn verherrlicht werde.“ - Wie bitte? Auf den ersten Blick geht diese Antwort weit an dem Anliegen der Pilgergruppe vorbei: „Wir wollen ihn sehen! Wir wollen uns von seiner Gegenwart inspirieren lassen!“ Ich meine: die Chance, Jesus zu sehen – da würde ich Herzklopfen kriegen, bis in die Fingerspitzen. Da ist doch eine Anziehungskraft, eine echte Attraktion, nicht ein Spektakel! Ich denke z. B. an Heilungsgeschichten, wo Jesus auf die Menschen eingeht; wo er fragt: „Was willst du?“ Wo er „Ja“ sagt: „Dein Glaube hat dich gerettet.“ - Stattdessen kommt ein Satz, der nicht zu greifen ist, wie eine Floskel von Politikern oder Pfaffen: „Die Zeit ist gekommen, dass der Menschsohn verherrlicht werde.“
Über Sprachgrenzen
Oder ist es eine Frage der Übersetzung? Wir wissen ja, dass Jesus mit „Menschensohn“ sich selbst gemeint hat, dass das in seiner Sprache einfach nur „Ich“ bedeutet hat. Und dieses merkwürdige Wort „verherrlichen“ rückt durch die zweifache Übersetzung – zuerst ins Griechische & dann ins Deutsche – und schließlich durch die ganze Kirchengeschichte hindurch Jesus viel weiter von uns weg, als er diesen Griech_innen, die zu ihm wollten, gewesen ist. Vielleicht hat Jesus diesen Satz voller Freude gesprochen, weil er die Hoffnung & das Vertrauen über die Grenze von Sprache & Kultur hinaus gespürt hat. „Jetzt zeigt sich wer ich bin: die Hoffnung vieler, auch über Grenzen hinweg.“ Das Wort verherrlichen bedeutet auch, dass etwas „klar sichtbar“ wird; und es bedeutet: „verehren“. Als Johannes die Geschichte erzählt, ist das für viele ein Skandal: Da wird ein kleiner Zimmermann & Prediger aus einem Kaff in Israel verehrt; er war der Willkür der Mächtigen ausgeliefert & sie haben ihn am Kreuz verrecken lassen. Nach den gängigen gesellschaftlichen Maßstäben hatte er jegliche Ehre verloren. Und der ist unser „Herr“ geworden – die kleinen Leute, die sich dem Weg Jesu angeschlossen haben, haben ihm die Ehre gegeben, nicht dem Kaiser.
Mit Bildersprache über Grenzen
Ich kann mir vorstellen, dass die, die Jesu vieldeutige Antwort hören, ihn fragend anschauen. „Wir wollen Jesus sehen – aber wir sehen nur ein schillerndes, undeutliches Bild.“ Da sagt Jesus es noch einmal, ganz handfest: „Wenn das Weizenkorn, das auf die Erde fällt, nicht stirbt, bleibt es allein. Aber wenn es stirbt, bringt es viel Frucht.“ Ihr wollt Jesus sehen? Dann seht euch das hier an: ein Weizenkorn. Ihr wisst wie es funktioniert. In dem Korn steckt das Geheimnis des Lebens. Zusammen mit Erde, Sonne, Wind & Regen wird daraus eine Pflanze, die neue Körner hervorbringen wird. Dieses Korn wird dann nicht mehr sein. Es wird verwandelt. „Ihr wollt mich sehen?“, fragt Jesus. „Ich werde verwandelt. Ich werde sterben, weil ich so lebe, wie ich lebe. Ich werde sterben, weil ich Gott mehr gehorche als den Mächtigen dieser Welt. Aber das, was mich lebendig macht, wird weiterleben. Es bekommt eine neue Gestalt. Wie ein Weizenkorn, das gesät wird.“
Sterben, um zu leben
„Wir wollen Jesus sehen“, sagen welche von denen, die sich auf den Weg der Gerechtigkeit Gottes gemacht haben. Jesus zeigt sich als Weizenkorn. „Hier. Das bin ich.“ - So sehe ich Jesus im Weizenfeld & im Brot. „Das bin ich.“ Ich sehe Jesus, wo das Brot geteilt wird & wo Jesus erkannt wird in den hungrigen Augen eines Menschen. „Ich muss sterben“, sagt Jesus, „& ich will verwandelt in euch weiterleben.“ Das macht der dritte Teil seiner Antwort deutlich, der Teil der Wahrheit, den ich oft lieber nicht sehen will. Weil ich mich ja dann selbst verwandeln muss; meine sichere, harte Schale aufgeben & zugeben, wie angewiesen ich bin: auf Erde, Sonne & Regen ebenso wie auf andere Menschen. Wo es doch immer darum geht, ich zu sein, stark zu sein, mich zu behaupten in der Welt. Da sagt Jesus denen, die ihn sehen wollen (wie ich): „Wer sein Leben liebt, wird es verlieren. Aber wer das Leben in dieser Welt hasst, wird es bis in das ewige Leben bewahren.“ Das geschieht, wenn ich meine Gestalt als Weizenkorn aufgebe & die Gestalt von Brot annehme.
Brot werden
„Wir wollen Jesus sehen.“ Ich kann ihn natürlich beglotzen. Aber wenn ich mit Herzklopfen bis in die Finger- & Zehenspitzen unterwegs bin, dann ist das Sehen-wollen ein Wunsch, in dem die Verwandlung, die Nachfolge schon angefangen hat. Sie hat angefangen & geht weiter in der Spur, die die Griech_innen damals nach Jerusalem geführt hat. Es ist der Weg des Lebens. Dann sehe ich, wie Jesus mich ansieht: durch das Weizenkorn, durch das Brot & die Menschen, die das Brot teilen. Jesus zeigt sich im Weizenkorn, im Brot, in den Menschen, die Grenzen überwinden; die den Hunger überwinden – nach Brot, nach Leben. „Ich bin da“, sagt Jesus, & mitten im Leid wächst die Freude.
Gesichter des Leidens – Andachten zur Passionszeit 2021 – Carlow & Demern
7. März - 3. Sonntag der Passionszeit – Petrus
Die sieben Wochen vor Ostern erinnern an den Leidensweg Jesu – ein Weg des Mitleidens & der Solidarität, der andere Leidenswege gekreuzt hat. Die Passionsandachten für die Sonntage der offenen Kirche richten den Blick auf verschiedene Personen der Passionserzählung. Im Wochenspruch & im Evangelium für den dritten Sonntag der Passionszeit geht es darum, Jesus nachzufolgen. Einer der ersten, die dieser Aufforderung gefolgt sind, war Petrus.
Nachfolge
„Wer die Hand an den Pflug legt und zurückblickt, ist für Reich Gottes nicht geeignet.“ (Lk 9,62) Der Wochenspruch für die 3.Passionswoche stammt aus einer kleinen Sammlung von Antworten, die Jesus denen gegeben hat, die sich nicht ganz sicher waren, wie weit sie mit ihm gehen wollten. Für Petrus war das kein Problem. Er war kein Bauer. Er hatte keinen Pflug. Sein Arbeitsgerät war das Fischernetz. Und das hat er ohne zu zögern liegen lassen, als Jesus ihn aufgefordert hat, mitzukommen. Menschenfischer ist Petrus geworden. Petrus war nicht zögerlich, aber die Evangelien erzählen von einem zwiespältigen Nachfolger – mal in Einigkeit, mal im Widerspruch zu Jesus. Matthäus beschreibt dieses Wechselspiel:
Grundstein & Satan Lesung aus dem Evangelium nach Matthäus (16, 15-18.21-23)
Jesus fragte seine Jünger_innen: „Für wen haltet ihr mich?“ Simon Petrus antwortete: „Du bist der Messias, Sohn des lebendigen Gottes.“ Jesus sagte zu ihm: „Glücklich bist du, Simon, Sohn des Johannes, denn dies wurde dir nicht durch Fleisch und Blut offenbart, sondern durch meinen Vater im Himmel. Und ich sage dir: Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Gemeinde bauen. Die Tore der Totenwelt sollen sie nicht überwinden. Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben…“ Von da an begann Jesus, seinen Jünger_innen zu erklären, dass er nach Jerusalem gehen muss, viel leiden durch die Ältesten, Hohenpriester und Schriftgelehrten; er würde getötet werden und am dritten Tage auferstehen. Da nahm Petrus ihn beiseite und fing an, ihm das auszureden: „Gott bewahre ich davor, dass dir das passiert!“ Jesus drehte sich um und sagte zu Petrus: „Geh weg von mir, Satan! Du willst mich von meinem Weg abbringen. Du hast nicht im Sinn, was Gott will sondern was Menschen wollen!“ Dann sagte Jesus zu seinen Jünger_innen: „Wer meinen Weg gehen will, muss von sich selbst absehen und das Kreuz auf sich nehmen und mir nachfolgen.“
Hohes & Tiefes
Eben noch spricht Petrus eine Erkenntnis aus, die er unmittelbar von Gott hat – in paar Schritte weiter erscheint er als Teufel. Die Führungskraft der Christenheit wird zum Verführer. Statt „Komm mit!“ sagt Jesus jetzt „Geh weg!“ Es ist nicht das letzte Mal, dass der Grundstein zum Stolperstein wird. Er ist nicht die letzte Führungskraft der Kirche, die sich verrennt & Fehltritte verantworten muss. Jetzt ist es so weit, dass die Nachfolger_innen der Nachgefolgten sagen: „Zum Teufel mit euch! Wenn ihr euch nicht bewegt & etwas ändert in der Kirche, gehen wir! Wir brauchen kein Bodenpersonal, das mit Herrschaftsgewalt irreführt & Schutzbefohlenen Gewalt antut, Gott selbst leitet uns.“ Das ist so gut evangelisch gedacht wie – in diesen Wochen sehr deutlich - katholisch getan. Ein Bischof, der in Fällen sexualisierten Gewalt, nicht eindeutig handelt, sondern zwiespältig bleibt, kann die nicht leiten, die Jesus nachfolgen.
Blick in den Spiegel
Es geht nicht darum, sich der katholischen Kirche überlegen zu fühlen oder den christlichen Glauben komplett abzuwerten. Die zwiespältige Darstellung von Petrus in den Evangelien kann vielmehr dazu ermutigen, selbstkritisch zu überlegen – als Einzelperson oder als Kirche: Wo lasse ich mich begeistern & mitnehmen? Wo verfehle ich das Ziel der Nachfolge? Wo haben wir Erkenntnis unmittelbar von Gott? Wo & wodurch geraten wir in Gefahr, uns verführen zu lassen & andere zu verleiten, vom Weg mit Jesus abzuweichen? Was brauche ich, um ihm nachzufolgen? Und was hindert mich daran? – Es geht nicht darum, das Böse, das durch kirchliche Leitfiguren entsteht, zu verharmlosen. Es geht darum, etwas zu verändern; die Netze, den Pflug & die unkritische Haltung gegenüber Strukturen zurückzulassen, die Machtmissbrauch & Gewalt ermöglichen. Es geht darum, dem Weg Jesu zu folgen. Er ist durch das Leid der Welt gegangen & hat viele ermutigt, in Richtung Gerechtigkeit & Frieden weiterzugehen.
Leiden als Wegweiser
Was glaubst du, wer Jesus ist? Welche Hoffnung verbindest du mit ihm? Welche Erfahrung in der Welt in deiner Zeit weckt in dir die Sehnsucht, einen Weg zu gehen, der die Schwachen schützt, die Starken in die Pflicht nimmt, Reichtum gerecht verteilt, die Not lindert? Für mich ist es in dieser Woche das Leid der Menschen im Jemen. Seit Jahren gibt es dort einen sogenannten „Bürgerkrieg“, in dem sich rivalisierende Gruppen bekämpfen. Mächtigere Nachbarstaaten versuchen, sich dort Einfluss zu sichern. Jedes zweite Krankenhaus ist zerstört, Cholera gehört zum Alltag, Kindern verhungern. Was heißt – wenn ich diese Katastrophe wahrnehme – Jesus-Nachfolge? Ich kann – wenn ich die Mittel habe – Geld spenden. Und ich kann darüber reden, das Leid nicht verschweigen, böse Machtspiele benennen & solange nicht verstummen, bis viele zusammen genug Macht entwickeln, um etwas zu verändern. Ich glaube, auf diesem Weg können wir Jesus folgen.
Schlüsselkompetenz
In der Nachfolge Jesu werde ich Menschen begegnen, einzigartig und wertvoll für Gott. Jede_n einzelne_n will Gott für den Schalom gewinne, für Frieden & Gerechtigkeit. Sie alle haben Gaben & Kompetenzen für diesen Weg. „Du bist der Messias“, sagt Petrus: „der Mensch, durch den Gott den Anspruch auf Frieden & Gerechtigkeit durchsetzt.“ Und Jesus sagt: „Du bist Kefas (das ist das aramäische Wort für das griechische Wort „Petros“, das auf deutsch „Stein“ bedeutet), ein Stein im Fundament der Gemeinschaft, die Gottes Welt mitbaut.“ Petrus vertraut darauf, dass Gott durch Jesus wirkt, und Jesus vertraut Petrus den Schlüssel für diese Baustelle des Lebens an. Dass Petrus ein paar Schritte weiter davongejagt wird, weil er Jesus lieber auf einem anderen Weg nachfolgen will, ändert nichts daran: Petrus hat den Schlüssel. Er kann kommen & gehen & wiederkommen. Das Vertrauen in Jesus wird ihm die Tür öffnen. Seine eigenen Schwächen werden ihm die Tür nicht verschließen. Nicht, weil ich ich bin, sondern weil ich du bin, öffnen sich Türen. Ich kann die Wahrheit nicht festhalten, aber du bist immer da Gott – die Tür auf den Weg Jesu ist immer offen.
Aufstehen
Immer wieder sagt Jesus „Komm mit!“ Und Petrus geht mit. Er verspricht, immer treu zu sein. Trotzdem schläft er ein, als Jesus ihn bittet, wach zu bleiben; er behauptet, Jesus gar nicht zu kennen, als der gefangen ist. Und er weint bitterlich, als er sich selbst erkennt, wie Jesus ihn erkannt hat. Der Weg der Nachfolge ist holperig. Petrus rennt los & stolpert. Er fällt & steht wieder auf– beides ist Nachfolge. Petrus steht auf & er steht zu Jesus; er geht weiter auf dem Weg, auf dem er Jesus folgte. Sein Stolpern & sein Weitergehen wird zum Bekenntnis zu Jesus, dem Gekreuzigten & Auferstandenen. Er lernt & überwindet seine Angst.
Hoffnung
Durch Hohes & Tiefes ist Petrus Jesus gefolgt, durch Hoffnung & Angst, durch Enttäuschung & Erkenntnis. Nachfolge ist eine Zumutung & die Ermutigung, nach vorne zu sehen, Hoffnung zu wagen, das alte Leben zurückzulassen. Es gibt Glücksmomente auf diesem holprigen Weg, zum Beispiel, wenn ich in den Menschen vor mir das Beste sehe, wodurch Gott in der Welt wirkt. Mit dir will Gott Frieden machen & Gerechtigkeit verwirklichen. Steh auf. Komm mit. Amen.
Gesichter des Leidens – Andachten zur Passionszeit 2021 – Carlow & Demern
28. Februar - 2. Sonntag der Passionszeit – Nikodemos
Die sieben Wochen vor Ostern erinnern an den Leidensweg Jesu – ein Weg des Mitleidens & der Solidarität, der andere Leidenswege gekreuzt hat. Die Passionsandachten für die Sonntage der offenen Kirche richten den Blick auf verschiedene Personen der Passionserzählung. Im Evangelium für den zweiten Sonntag der Passionszeit spricht Jesus mit Nikodemos – Pharisäer & Angehöriger der Oberschicht.
Sterben
Mein schönster Traum? Sterben. – Damit hat ein Schüler Lehrer_innen und Eltern erschreckt. Was ist da los, dass ein zwölfjähriger Junge das in einem Aufsatz schreibt?
Sterben: das ist die Perspektive für alle. Irgendwann. Wir wissen das. Aber nicht mit zwölf! Nicht allein im Krankenhaus, weil Besuche von Angehörigen ein Infektionsrisiko bedeuten! Nicht durch Gewalt oder den Hunger, der den Kriegen auch in diesen Zeiten folgt! Sterben ist auch die Perspektive der Passionszeit. Mit Blick auf den Karfreitag gedenken wir des Sterbens Jesu. Auch er musste viel zu früh sterben. Wir wissen das. Der Zwölfjährige lebt. Mir kam es vor wie ein Hilferuf. Seit Jahren wurde er schikaniert. Die Eltern haben ihm den Rücken gestärkt. Aber in der Schule ging die Quälerei weiter. Mein schönster Traum? Sterben. Und der schlimmste?
Leben wollen
Wir zählen die Toten - „an oder mit Corona gestorben“. Seit einem Jahr gehören die Todeszahlen zum täglichen Pandemiereport. Das Virus beherrscht den Alltag der Welt – auch dort, wo es nicht ernst genommen wird. Andere Todeszahlen werden von den Fluchtrouten berichtet – wenn Boote im Mittelmeer zerbrechen. Menschen wollen leben, aber da, wo sie geboren wurden, ist Krieg. Sie suchen einen Ausweg & als sie denken, sie hätten ihn gefunden, werden sie mit der knallharten Realität konfrontiert: Asyl wird nicht gewährt, es droht die Abschiebung. Viele suchen einen Ausweg im Tod. Andere wollen leben, wollen lernen & lachen – doch ihr Leben ist ein Alptraum: Hunger, Gewalt, Katastrophen.
Weltflucht
Viele Menschen zur Zeit Jesu kannten diese Schrecken, hatten sie am eigenen Leib erlebt. Sie konnten nicht glauben, dass es besser werden kann. In der Welt zu sein, war für sie eine Strafe; die Welt ein übler Ort. Aber jetzt ist einer unterwegs, von dem sagen die Leute: „Er verwandelt die Welt, macht Wasser zu Wein & räumt damit auf, dass die Welt sich nur ums Geld dreht.“ Jesus heißt dieser Weltverbesserer. Das weiß Nikodemos schon. Im Evangelium nach Johannes wird an drei Stellen von Nikodemos erzählt. Und immer geht es irgendwie um Leben & Tod.
Im Schutz der Dunkelheit
Nikodemos gehört zur jüdischen Oberschicht in Jerusalem. Er will unerkannt bleiben. Ein Sympathisant Jesu, der an der Seitenlinie mitgeht. Er will es genau wissen, will selbst sehen & hören, was dran ist, an diesem Jesus. Nikodemos wartet auf den Schutz der Dunkelheit. Bis es Nacht wird, wartet Nikodemos, dann geht er zu Jesus & sagt. „Rabbi, wir wissen, dass du von Gott gekommen bist, denn niemand kann diese Wunderzeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist.“ Jesus antwortet: „Alle, die nicht erneut geboren werden, können das Reich Gottes nicht sehen.“ Sein schönster Traum: neu geboren werden, anders leben.
Anders leben
So schnell wie da im Süden das Licht schwindet & die Nacht kommt, so schnell sind die beiden beim Thema. Es geht um Gott & die Welt, um Gottes Reich in Frieden & Gerechtigkeit, wo Men-schen einander nicht mehr so sehr quälen, dass sie vom Tod träumen. Es geht um ein anderes Leben. Aber: Neu geboren werden? Wie soll denn das gehen? Nikodemos hakt nach. Da sitzen sie, zwei miteinander bei Nacht. Und Jesus erinnert an eine alte Geschichte von Gott & der Welt.
Johannes erzählt im 3. Kapitel davon, im Evangelium für den Sonntag Reminiszere: „So wie Moses in der Wüste die Schlange erhöht hat, muss auch der Sohn des Menschen erhöht werden, damit alle, die ihm vertrauen, ewiges Leben haben. Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gegeben hat, damit alle, die ihm vertrauen, nicht verloren gehen, sondern ewiges Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt geschickt, um die Welt zu verurteilen, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird. Wer ihm vertraut, wird nicht verurteilt, aber wer ihm nicht vertraut, ist schon verurteilt, weil er kein Vertrauen in den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes gefunden hat. Dies aber ist das Gericht: das Licht ist in die Welt gekommen – und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht: denn ihre Werke waren böse. Denn alle, die Schlechtes tun, hassen das Licht & kommen nicht zum Licht, damit ihre Werke nicht sichtbar werden. Aber alle, die die Wahrheit tun, kommen zum Licht, damit sichtbar wird, dass ihre Taten in Gott getan sind.“ (Johannes 3, 14-21)
Im Licht Schutz geben
Ob Nikodemos mit dieser Antwort zufrieden war? Aus jener Nacht wird nichts weiter erzählt, aber später wird Nikodemos wieder sichtbar & hörbar. Da mischt er sich ein in den Streit, der um Jesu Reden & Tun entsteht. Nikodemos bringt Licht in die dunkle Welt der Verschwörungserzählungen, indem er widerspricht. (Johannes erzählt am Ende des 7. Kapitels davon.) Im inneren Kreis derer, die sich für eingeweiht halten & dann auch noch mit rassistischen Vorurteilen gegen einen aus Galiläa Politik machen, fordert Nikodemos, dass sie sich an der heiligen Schrift orientieren, statt gegen Jesus zu hetzen. Als Jesus aufgrund der Tora verurteilen willen verurteilen wollen, fragt Nikodmos: „Verurteilt etwa die Tora einen Menschen, ohne ihn zuvor gehört zu haben und zu wissen, was er tut?“ Nikodemos hält das Licht der Schrift hoch, aber als Sympathisant Jesu lässt er sich nicht erkennen. Er bleibt an der Seitenlinie.
Fragen stellen
Wo Unrecht zur Normalität erhoben wird, kann Nikodemos ein Vorbild sein. Zum Beispiel, wenn Verschwörungserzählungen verbreitet werden. Da kann es schon genügen zu sagen: „Ich sehe das anders.“ Und dann wie Nikodemos Fragen zu stellen, die „alternative Wahrheit“ in Frage zu stellen. Oft entsteht dann ein Gespräch. Wenn ich nicht mit fertigen Antworten in die Konfrontation gehe, sondern mit Fragen Raum für einen Dialog öffne, kann sich das Licht der Wahrheit ausbreiten. Das Böse hat da keine Macht. Was für ein schöner Traum, der schon angefangen hat & immer wieder anfängt!
Nein sagen
Wenn Gott die Welt so sehr liebt, dass er seinen Sohn, diesen einen, den Gefahren der finsteren Zeiten ausgesetzt hat, dann können doch auch wir dieser Welt die Liebe geben, die sie heller macht; dann können auch wir „Nein!“ sagen, wo Unrecht geschieht; dann können auch wir uns an die Seite der Schwachen & der Schikanierten stellen. Nikodemos war da. Er hat nach Wahrheit gesucht, nach einem Weg, neu ins Leben zu kommen. Im inneren Kreis der Macht hat Nikodemos mitgeredet. Und er ist immer wieder über diesen Kreis hinausgegangen.
Wahrheit suchen
Nach Jesu Tod am Kreuz hat Nikodemos mitgeholfen, ihn würdevoll zu bestatten. (Johannes erzählt am Ende des 19. Kapitels davon.) Unter den ersten Jünger_innen Jesu hat Nikodemos keine besondere Rolle gespielt, aber in der Gemeinde um Johannes war er wohl bekannt als einer, der für Wahrheit & Würde eingetreten ist. Noch heute kann Nikodemos uns den Weg weisen: die Wahrheit wahrzunehmen & so zu handeln, dass das Leben der schönste Traum wird & ist & bleibt.
Gesichter des Leidens – Andachten zur Passionszeit 2021 – Carlow & Demern
21. Februar - 1. Sonntag der Passionszeit – Judas
Die sieben Wochen vor Ostern erinnern an den Leidensweg Jesu – ein Weg des Mitleidens, der andere Leidenswege gekreuzt hat; ein Weg, der Mitleidens und der Solidarität. Die Passionsandachten für die Sonntage der offenen Kirche richten den Blick auf verschiedene Personen der Passionserzählung.
Am ersten Sonntag der Passionszeit bekommen wir Judas in den Blick - eine tragische Gestalt… oder eine Gestalt mit einer tragischen, wenn nicht fatalen Geschichte?
Lesung des Evangeliums (Johannes 13, 21-30 & 18, 1-11)
Als Jesus dies gesagt hatte, war er innerlich aufgewühlt und er bezeugte und sagte: „Amen, amen, ich sage euch: jemand von euch wird mich ausliefern.“ Da sahen die Jüngerinnen und Jünger einander an und waren ratlos, von wem er redete. Einer von den Jüngern lag an Jesu Brust, den liebte Jesus. Dem nickte Simon Petrus zu, damit er Jesus frage, von wem er spreche. Da lehnte der sich an Jesu Brust und fragte ihn: „Herr, wer ist es?“ Jesus antwortete ihm: „Es ist der, für den ich einen Bissen Brot eintunken und ihm geben werde.“ Und er nahm einen Bissen Brot, tunkte es ein und gab es Judas, dem Sohn von Simon Iskariot. Und mit dem Bissen drang der Satan in ihn ein. Da sagte Jesus zu ihm: „Was du tun willst, das tue schnell.“ Das verstand keiner von denen, die mit ihm zu Tisch lagen, wozu er dies sagte. Einige dachten sich, weil Judas die Kasse führte, sagte Jesus zu ihm: „Kaufe auf dem Markt, was wir für das Fest brauchen!“ oder dass er den Armen etwas geben solle. Nachdem Judas das Stück Brot bekommen hatte, ging er sofort hinaus. und es war Nacht.
(…)
Als Jesus dies gesagt hatte, ging er mit seinen Jüngerinnen und Jüngern hinaus auf die andere Seite des Baches Kidron. Dort war ein Garten, in den er mit seinen Jüngerinnen und Jüngern ging. Auch Judas, der ihn ausliefern sollte, kannte diesen Ort, weil Jesus dort oft mit ihnen zusammen war. Judas nahm also eine Kohorte römischer Soldaten und Leute der Hohenpriester und der Pharisäerinnen und Pharisäer und kam mit Fackeln, Lampen und Waffen dorthin. Da Jesus alles wusste, was auf ihn zukommen würde, kam er heraus und sagte zu ihnen: „Wen sucht ihr?“ Sie antworteten ihm: „Jesus aus Nazareth.“ Er sagte zu ihnen: „Das bin ich.“ Und auch Judas, der ihn auslieferte, stand bei ihnen. Als Jesus zu ihnen sagte „Das bin ich!“, wichen sie zurück und fielen zu Boden. Noch einmal fragte er sie: „Wen sucht ihr?“ und sie sagten: „Jesus aus Nazareth.“ Jesus antwortete: „Ich habe euch gesagt, dass ich es bin. Wenn ihr also mich sucht, lasst diese gehen.“ Dies sagte er, damit das Wort erfüllt werde, das er gesagt hatte: „Ich haben keine und keinen verloren von denen, die du mir gegeben hast.“
Simon Petrus aber hatte ein Schwert, das zog er und schlug dem Sklaven des Hohenpriesters das rechte Ohr ab. Der Sklave hieß Malchus. Da sagte Jesus zu Petrus: Steck dein Schwert weg. Soll ich den Kelch, den Gott mir gegeben hat, nicht austrinken?“
Predigt
Verraten werden tut weh. Da zerbricht etwas, das sich nicht reparieren lässt. Verräter – wer so genannt wird, muss die Todesstrafe fürchten. Oder den Abbruch der Beziehung. Verrat lässt sich nicht mal eben wieder gutmachen.
Verraten werden tut weh. Aber wer verrät eigentlich wen in diesen Texten? Was verrät Johannes, der Evangelist, über Judas? Mit wenig Sinn für dramatische Spannung weist Johannes schon sechs Tage vor dem Passahfest darauf hin, wer Judas ist; mit einer Beiläufigkeit, die vermuten lässt, dass dieser Judas und seine Rolle in dem bösen Spiel allen bekannt sind, die dies hören. Nur noch mal zur Erinnerung erwähnt Johannes seine Verstrickung. Und auch, dass er ein Dieb sei, der aus der Kasse, die er führt, Geld unterschlägt – was ist von dem zu erwarten… außer Heimtücke und Verrat?
Die Jüngerinnen aber und die Jünger, die mit ihm am Tisch sitzen, hegen offenbar keinen Verdacht; obwohl sie gehört haben, was passieren würde; obwohl Jesus ein Zeichen gab. Einkaufen gehen oder Armen helfen – das trauen sie Judas zu. Und Verrat?
Verraten zu werden tut weh. Aber wer verrät hier eigentlich wen? In der Darstellung des Johannes-Evangeliums ist Jesus ganz der Souverän des Geschehens. Judas hat keine Wahl. Vielmehr wählt Jesus ihn aus – oder? Jesus gibt Judas das Brot, mit der der Teufel ihn in Besitz nimmt. Dabei hat er ihm vorher doch noch die Füße gewaschen – ein Zeichen der Verbundenheit. Und jetzt? Judas wird losgeschickt wie ein Bote. Da ist keine Spur von Überraschung oder Enttäuschung. Allenfalls der wehrhafte Petrus wird zurechtgewiesen. Judas kommt nicht mehr zu Wort. Und auch vom berühmten Judaskuss ist hier keine Spur. Jesus selbst gibt sich zu erkennen: Ich bin’s. Und noch einmal: Ich bin’s. Kein Kuss, kein ausgestreckter Zeigefinger, kein „Der da!“ Jesus ist der Herr der Lage.
Und Judas? Wird die Rolle des Schurken seinem Tun bei dieser Auslieferung gerecht? Oder ist es das Stigma des Diebes und Betrügers, dass es uns leicht machen soll, in ihm die dunkle Seite zu sehen? Eine einfache Lösung, die Schwarz-Weißmalerei. Eine Lösung, die kein Problem löst. Ein Bild, dass in eine Kultur des Verurteilens passt aber nicht zur Frohbotschaft der Vergebung. Wer also ist dieser Judas? Welche Bedeutung hat er für das Leben und Sterben und Auferstehen Jesu?
Eine radikale Deutung der Rolle, die Judas bei der Auslieferung spielt, gibt der Schriftsteller Eric Emanuel Schmitt in seinem Buch „Das Evangelium nach Pilatus“. In dieser Nacherzählung ist Judas der Lieblingsjünger, der sich von den einfachen Fischern aus Galiläa durch seine Bildung unterscheidet. Deshalb wird er auch Schatzmeister der Jesusbewegung. Er organisiert die Verteilung der Gaben an die Armen. Und er ist theologischer Gesprächspartner von Jesus. Er, Judas, deutet das Tun und die Lehre Jesu auf dem Hintergrund der Schrift und erkennt: das ist der Messias. Er, Judas, konfrontiert Jesus mit seinem Schicksal: „Du musst nach Jerusalem zurück. … die Schriften sagen es ganz deutlich, dass Christus in Jerusalem gekrönt wird. Du wirst Erniedrigung, Folter und Tod durchleiden müssen, um das wiederaufzuerstehen. Auf dich kommt eine schwere Zeit zu.“ … „Du wirst am dritten Tage wiederkommen. Und ich werde da sein, um Dich in meine Arme zu nehmen.“
Aber dann, als Jesus beim Mahl ihn mit seiner Rolle in diesem Geschehen konfrontiert, ist Judas entsetzt. Dass er, Judas, abseits der Menschenmenge einen Soldatentrupp auf seinen Freund und Meister ansetzen soll, gefällt ihm gar nicht. Doch, so erzählt Eric Emanuel Schmitt, „dann fasste er sich und sagte leise: „Du wirst am dritten Tage wiederkommen. Aber ich werde nicht mehr da sein, um dich in meine Arme zu schließen.“ „…Was hast Du vor?“ „Ich hänge mich auf.“ „Nein, das will ich nicht!“ „Wenn du dich kreuzigen lässt, kann ich mich auch aufhängen.“ „Ich vergebe Dir, Jehuda.“ „Ich nicht“, stieß er hervor und rempelte bei seinem raschen Abgang einige an.“
Verraten werden tut weh. Was immer Judas getrieben haben mag – teuflische Bosheit, revolutionäre Hoffnung, tiefes Vertrauen oder persönliche Enttäuschung – er ist der Situation ebenso ausgeliefert, wie er Jesus ausliefert. Wie sehr ist er Täter? Wie weit Opfer? Die dunkle Seite wird im Judasbild der Evangelien sichtbar. Es bleibt aber auch etwas Schillerndes, die Zärtlichkeit eines Kusses und der gewaschenen Füße, das Vertrauen in den Kassenwart und das Einverständnis Jesu mit dem, was Judas tut. Am Ende ist Judas möglicherweise an der großen Hoffnung zerbrochen, die er in Jesus gesetzt hatte. Und doch fehlte ihm das Vertrauen in Gottes Liebe, die den Tod überwindet. Am Ende hat er sich selbst dem Tod ausgeliefert. Dass Gott ihm seine Schuld vergibt und ihn in Liebe verwandelt – darauf hoffe und vertraue ich. Amen.
Hören, sehen, lachen.
Predigt im Dialog mit Worten aus dem Buch des Profeten Jesaja (58, 1-9a) - 14. 2. 2021
Tataa!?
Normalerweise wäre jetzt Faschingszeit – da, wo das gefeiert wird. Und falls jemand die Pointe verpasst hat, kann er oder sie trotzdem lachen & klatschen beim „Tataa!“ Aber normal ist ja nichts in dieser Zeit. Kein Tusch! Kein „Tataa!“ Kein Applaus. Das Klatschen auf den Balkonen ist verstummt. In Hamburg wurde letztens eine Schweigeminute im Rahmen eines Balkonkonzerts von der Polizei unterbrochen, weil dieses gemeinsame Gedenken an die Corona-Opfer als Verstoß gegen Kontaktbeschränkungen gesehen wurde. – Was für eine närrische Zeit! Ohne „Tataa!“ Wo doch – im Ernst – ein paar Verhaltensregeln schützen.
Alles vorbei?
Die fünfte Jahreszeit, in der das Närrische normal ist, ist am Aschermittwoch vorbei. Dann werden Kostüme & Masken weggeräumt. Wo zum Höhepunkt der Saison grenzenlos gefeiert wurde, folgen Fastenwochen. Auch dieses Jahr? Unsere närrische Zeit geht schließlich in die nächste Verlängerung; wir werden die Masken noch länger brauchen – sollen wir trotzdem fasten, trotz des Verzichts auf Fastnacht? Erst ohne „Tataa!“ & dann noch „Sieben Wochen ohne“? Ohne uns, oder?
Meint der uns?
Einer stößt trotzdem ins Horn; obwohl das normal-närrische Treiben abgesagt wurde. Auftrag von ganz oben. Was er zu sagen hat, ist nicht witzig. Einer äußert klar & deutlich Kritik am Lebenswandel des Mainstreams, der Mehrheitsgesellschaft. Es geht um die Welt, die Schaden genommen hat – durch menschliches Tun & Lassen – schon lange vor dem Anthropozän & dem menschengemachten Klimawandel. Und es geht um Menschen, die Schaden nehmen – manche geraten durch Homeoffice, Homeschooling & wirtschaftliche Not unter Druck, andere bekommen Lagerkoller, wieder anderen bleibt die Luft weg. Keine Atempause. Auch damals nicht, vor knapp dreitausend Jahren. Auch damals gab es schon welche, die sich kaputtarbeiten mussten für die Rücksichtslosigkeit anderer. Kein Tataa! Aber ein lautes Signal: Für die kaputte Welt hat Jesaja eine Botschaft; für Menschen mit Privilegien; für Leute, die trotzdem das Gefühl haben, zu kurz zu kommen. Damit alle wieder frei atmen können. Eine uralte Geschichte ist das. Gilt sie auch für uns?
Rufe laut! (Lesung aus dem Buch des Profeten Jesaja - 58, 1-5)
Rufe laut, ohne Zurückhaltung; erhebe deine Stimme wie ein Widderhorn! Halte meinem Volk seine Vergehen vor und den Nachkommen Jakobs ihre Verfehlungen. Tag für Tag suchen sie mich, wollen meine Wege wissen, als wären sie ein Volk, das Gerechtigkeit tut und vom Recht seines Gottes nicht abweicht; sie fordern gerechte Urteile von mir und wollen, dass Gott ihnen nah ist. (Ihr sagt:) : „Warum fasten wir – und du siehst es nicht? Wir quälen uns – und du bemerkst es nicht.“ Seht! An eurem Fastentag findet ihr Gefallen - und die, die sich für euch abrackern, setzt ihr unter Druck. Seht! Ihr fastet, um zu streiten und Zank anzuzetteln; um gewalttätig mit der Faust zuzuschlagen. Ihr sollt nicht so fasten wie jetzt, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll. Soll ich so ein Fasten mögen? Ein Tag an dem sich Menschen quälen? Sollen sie ihre Köpfe hängen lassen wie umgeknicktes Schilf und in Sack und Asche gehen? Meint ihr, dass es darum beim Fasten geht und Gott solche Tage mag?
Bilder von mir selbst
Tataa! Jesaja erhebt die Stimme wie ein Widderhorn. Was er sagt, ist nicht lustig. Er hält seinem Publikum den Spiegel vor & es ist nicht schön, wie sie in seinen Worten angesehen werden: zanksüchtig, heuchlerisch, selbstgerecht und rücksichtslos. Es ist nicht schön, stellen viele fest, bei Videokonferenzen immerzu sich selbst zu sehen; immerzu zu sehen, wie andere mich sehen & dazu noch die Galerie der Kolleg_innen auf dem Bildschirm, die auch die ganze Zeit an ihrem Selbstbild arbeiten. Anstrengend kann das sein, immerzu am Selbstbild zu arbeiten, an der Maske, die die anderen sehen sollen.
Zerrbilder
Zurück nach Jerusalem zur Zeit Jesajas. Da gab es keine Videokonferenzen, die unangenehme Begegnungen von Selbstbildern mit der Realität beschreiben. Worte genügen, um Bilder zu erzeugen, die weh tun. Jesaja spricht mit Menschen, die gekränkt sind: „Warum fasten wir – und du siehst es nicht? Wir quälen uns – und du bemerkst es nicht.“, fragen sie. Viele von uns kennen dieses Gefühl oder kennen Menschen, die dieses Gefühl kennen, dass sie zu kurz kommen, nicht ernstgenommen werden, nicht gesehen werden, kein Ansehen genießen, keine Rolle spielen. Viele kennen Mangel; kennen die Not, nicht zu bekommen, was sie brauchen oder begehren. Viele vergleichen sich mit anderen, denen es besser geht, die es leichter haben, die in Saus & Braus leben. Viele erleben sich selbst – gemessen am Maßstab der Schönen & Reichen, als allenfalls mittelmäßig. Und dann kommt auch noch Jesaja & die Moralpredigt von ganz oben. Wir sind alle kleine Sünder_innen. Ist das das Bild, das übrig bleibt, wenn Gott mich ansieht? Selbstgerecht & rücksichtlos? Muss ich mir das sagen lassen?
Kränkung
Fastnacht fällt dieses Jahr aus. Fasten müssen wir um Gottes Willen auch nicht. Jesaja ist da ganz deutlich. Gott hat kein Interesse daran, dass ihr euch quält. Fällt die Maskerade jetzt auch aus? Nicht die mit Alltags- oder FFP2-Masken, sondern die Alltagsmaskerade? Immerzu soll ich einen guten Eindruck machen – aber wer bin ich wirklich? Darf ich so sein, wie ich bin? Bin ich gut genug, wie ich bin? Ich glaube, viel Elend in dieser Welt, bis hin zu Depressionen & zu Krieg, werden von diesen Fragen ausgelöst; vom Zweifel daran, dass ich liebenswert und schön bin, ohne dass ich mich verstelle, ohne dass ich mich erschöpfe. Schon bevor sie in die Schule kommen, lernen Kinder, dass sie sich anstrengen müssen, um Anerkennung zu erlangen, Ansehen und Zuwendung. Wie Kinder, die dieser Anstrengungen müde sind, fragen die Kinder Israels: : „Warum fasten wir – und du siehst es nicht? Wir quälen uns – und du bemerkst es nicht.“ Verletzte Kinder sind viele Menschen, auch wenn sie schon lange groß sind. „Nie kriege ich was!“ „Immer mache ich alles falsch!“ Das tut so weh!
Diagnose
Gott hört das. Und Gott antwortet. Gott sagt: Seht! Und Gott macht hörbar, dass er sehr wohl sieht, wie seine Menschenkinder sich abrackern. Gott macht hörbar, was die Menschen selbst schon gespürt haben: ihre Anstrengungen machen sie nicht glücklich. Gott legt den Finger in die Wunde, dass Menschen sehr schnell spüren, wenn sie selbst verletzt sind, und schnell darüber hinweggehen, wie sie die Rechte & die Würde anderer verletzen. Mit Fasten & frommen Übungen bemühen sich immer noch Menschen um Anerkennung von Gott & Menschen – aber die Zufriedenheit & der Frieden bleibt aus. Und Gott sagt: Seht! Und Gott sagt, wie es aussieht:
Gute Aussichten (Lesung aus dem Buch des Profeten Jesaja - 58, 6-9a)
Ist das nicht das Fasten das ich mag? Ungerechte Verstrickungen (sollst du) lösen; freilassen, die durch Belastungen gebunden sind; die Misshandelten freigeben und alle Unterdrückung beenden. Geht es nicht darum? Brich mit den Hungrigen dein Brot, umherirrende Arme führe ins Haus; wenn du Leute nackt siehst, gib ihnen Kleidung und versteck dich nicht vor deinen Nächsten! Dann bricht dein Licht hervor wie die Morgendämmerung! Deine Gesundheit wird schnell wiederhergestellt! Deine Gerechtigkeit geht vor dir her und die Klarheit Gottes geht hinter dir. Dann rufst du und Gott antwortet. Du schreist und Gott sagt: „Sieh! Ich bin hier.“
Heilung
Gott sagt: Seht! Und Gott beschreibt einen Weg ins Licht. Gott beschreibt einen Weg, auf dem dein Licht leuchtet: Brich mit den Hungrigen dein Brot, umherirrende Arme führe ins Haus; wenn du Leute nackt siehst, gib ihnen Kleidung und versteck dich nicht vor deinen Nächsten! Gott sagt: Glücklich bist du, wenn du, wenn du diese Grundbedürfnisse erfüllst – für dich, für andere, für alle. Brot für die Welt, ein Zuhause für alle, Schutz & Wärme, Würde & Zuwendung. Das sind die Bausteine des Friedens, der Zufriedenheit. Mein Blick geht über mich hinaus. Aus dem in-mich-selbst-verkrümmt-Sein (so hat Martin Luther die Sünde beschrieben) werde ich befreit & aufgerichtet, wenn ich die Bedürfnisse anderer im Blick habe. Und Gott sagt: „Sieh! Ich bin hier.“ Da, wo Hilfe nötig ist, ist Gott. Im Du.
Es ist du
Der Mystiker Rumi hat dazu eine Geschichte erzählt: Der Liebende klopft an die Tür des Geliebten. Wer ist da? fragt der Geliebte. Ich bin’s, sagt der Liebende. Ach, Ich bin doch schon hier, sagt der Geliebte. Die Tür bleibt verschlossen. Da zieht der Liebende durch die Welt. Als er zurückkommt, klopft er wieder an die Tür. Wer ist da? Es ist du. Da öffnet sich die Tür.
Nächstenliebe + Selbstliebe
Glück ist Liebe. Was ich anderen schenke, kann mir niemand mehr nehmen. Was ich gebe, macht mich frei. Manchmal kann das auch heißen, dass ich streiten muss, wie Jesaja. Dem sagt Gott: Tu deinen Mund auf für die Stummen. Rufe laut! Tataa! Hab keine Angst vor Widerworten. Höre & handle. Gib Geflüchteten Schutz, widersprich Rassismus & Hass, bewahre die Welt, in der du leben willst. Und dann wollen wir lachen, alle zusammen, ohne Tusch & ohne Masken. Das wird ein Fest!
Was sollen wir trinken?
Predigt für den 2. Sonntag nach Epiphanias, 17. 1. 2021
im Dialog mit Worten aus dem Evangelium nach Johannes 2, 1-11
Erinnerungskultur
Johanna schreibt. Wenn sie innehält, um nach den richtigen Worten zu finden, schaut sie sich um, sieht Kinder spielen; Frauen & Männer gehen ihrer Arbeit nach. Das könnte eine heile Welt sein, das Reich Gottes. Ist es aber nicht. Die Legionen aus vielen Völkern hatten sich durchgesetzt; die jüdischen Rebellen - überwiegend überzeugt, im Namen Gottes zu handeln - wurden vernichtend geschlagen. Der Krieg ist vorbei, aber Friede ist das noch lange nicht. Das Land ist zerstört & die Frage nach Glauben oder Unglauben wird schärfer als je zuvor diskutiert. Die Konservativen gewinnen an Einfluss. „Trotzdem“, denkt Johanna: „Ich will nicht hinter das zurück, was wir in der Nachfolge Jesu erreicht haben.“
Zusammen halten!
Johanna hat sich Großes vorgenommen: sie will alles aufschreiben, was sie von Jesus weiß. Sie will den Zweifelnden in ihrer Gemeinde Mut machen: Geht weiter auf dem Weg Jesu, für Gerechtigkeit auf Erden, jetzt & in Zukunft. Johanna ermutigt, offen zu bleiben für Menschen unterschiedlicher Herkunft. Ein Spagat ist das schon: die Frauen & Männer mit jüdischem Hintergrund könnten sich von Jesus abwenden, um die Einheit des ohnehin schwer geschlagenen jüdischen Volkes nicht zu gefährden. Und Gemeindeglieder aus dem griechischen Kulturkreis könnten sich von Jesus abwenden, weil er ja doch nur ein Mensch war, ein Sterblicher. Und doch: Menschen aus beiden Gruppen zusammen haben eine Gemeinde gebildet, eine solidarische Lebensgemeinschaft, in der Frauen & Männer, Jüdische & Griechische, Freie & Versklavte gleichberechtigt zusammenleben, füreinander einstehen. Jetzt droht diese Gemeinde unter dem politischen Druck von beiden Seiten zu zerfallen. Aber Johanna kämpft für die Gemeinschaft. Sie kämpft mit der Feder. Sie schreibt ein Evangelium.
Eine Frauenquote?
Könnte das sein, dass eine Frau das Johannesevangelium geschrieben hat? Könnte eine Johanna dieses Glaubenszeugnis erschaffen haben? Könnte sie die abstrakte Vorstellung vom Wort, das am Anfang war, mit ganz konkreten & sinnlichen Erlebnissen bis hin zur Fußwaschung verbunden haben? - Warum nicht? Zumindest verbindet das Johannesevangelium den göttlichen Vater & die irdische Mutter, die Materie & den Geist so innig, dass sie unzertrennlich werden. Und schließlich erzählt Johannes oder Johanna von souverän handelnden Frauen. So wie in dieser Geschichte:
Vom Fest des Lebens
Nach drei Tagen war eine Hochzeit in Kana in Galiläa und die Mutter Jesu war auch dort. 2 Und auch Jesus und seine Jünger_innen waren zu der Hochzeit eingeladen. 3 Und weil es an Wein mangelte, sagte die Mutter Jesu zu ihm: Sie haben keinen Wein. 4 Und Jesus sagte zu ihr: Was ist mit mir und dir, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen. 5 Seine Mutter sagte den Diener_innen: Was er euch sagt, das tut. 6 Und es standen dort sechs Wasserkrüge aus Stein entsprechend der jüdischen Reinheitsvorschrift, die jeweils zwei bis drei Maß (80 – 120 l) fassten. 7 Jesus sagte zu ihnen: Füllt die Wasserkrüge mit Wasser. Und sie füllten sie bis oben hin. 8 Und er sagte: Schöpft jetzt und bring es der Person, die für die Speisen zuständig ist. Und sie brachten es ihr. 9 Und als der Küchenchef probierte, war das Wasser Wein geworden, und er wusste nicht woher er war - aber die Diener_innen wussten es, die das Wasser geschöpft hatten, - da rief die Person, die für die Speisen zuständig war, den Bräutigam 10 und sagte zu ihm: Jeder Mensch schenkt zuerst den guten Wein aus, und wenn sie betrunken werden, den geringeren. Aber du hast den guten Wein bis jetzt aufgehoben. 11 Dies tat Jesus als Anfang der Wunderzeichen in Kana in Galiläa und zeigte seinen Glanz. Und seine Jünger_innen vertrauten ihm.
Provokation
Das Evangelium nach Johannes war genauso eine Provokation, wie es ein Evangelium nach Johanna wäre. Konservative Vertreter_innen der Religionen jener Zeit sahen sich schon dadurch provoziert, dass hier die Verbindung von Göttlichem & Menschlichem betont wird – das Wort wurde Fleisch, ein Skandal. Johannes integriert einen göttlichen Menschen in eine Gemeinschaft einfacher Leute, weil ja einer allein Gottes Herrlichkeit nicht verkörpern kann. Und provoziert, indem er/sie kurz & knapp beschreibt, wie das erste Wunderzeichen Jesu auf die Initiative einer Frau hin geschieht.
Nicht zuständig
„Nach drei Tagen“, erzählt Johanna, „war eine Hochzeit in Kana… und die Mutter Jesu war da. Und Jesus mit seinen Jüngern war auch eingeladen.“ Erst Maria, dann die Jesus-Clique – das kann durchaus mit Absicht so erzählt worden sein: diese Frau hat etwas zu sagen. Sie erklärt sich für zuständig bei diesem Fest in schwierigen Zeiten. Eine Hochzeit wie früher gab es in Johannas Dorf schon länger nicht. Es war ja Krieg. Auch danach gab es nicht viel zu feiern. Johanna lässt Jesu Mutter diese Situation benennen, die Erfahrung Armut, die so viele in Johannas Gemeinde teilen: „Sie haben keinen Wein“, sagt die irdische Mutter. Und der göttliche Sohn reagiert ganz so, wie Johanna es von religiösen Autoritäten kennt. Auch die Vertreter Jesu auf Erden halten sich oft für nicht zuständig für die irdischen Zustände. „Was habe ich mit dir zu tun, Frau?“, lautet schroff die Antwort. Das sind übrigens die ersten Worte Jesu im Johannesevangelium: „Was habe ich mit dir zu tun, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“ Jesus als Partygast, inkognito, ein abgehobener Kirchenmann, der jegliche Verantwortung zurückweist? Wem hält Johanna da den Spiegel vor? Uns, die wir nicht zuständig sind für die Not der Geflüchteten in abgebrannten Lagern? Uns, die wir glauben, wenn jede_r für sich sorgt, ist für alle gesorgt?
Da müssen wir was tun!
Maria ignoriert die Ignoranz ihres Sohnes für die Not der kleinen Leute. Sie ist diejenige, die aktiv wird; programmatisch zu Beginn des Evangeliums – noch bevor Jesus irgendetwas tut oder lehrt. „Was er euch sagt, das tut.“ Herzensanliegen des Evangeliums ist, dass alles, was von Jesus gesagt ist, im Alltag der Gemeinde Wirklichkeit wird; dass auch die Menschen, die das Evangelium lesen, den Worten Jesu gemäß handeln. Christ_in sein ist nicht eine Überzeugung, sondern eine Lebensform, ein Miteinander von Menschen in Gottes Geist. Maria, Jesus & die Bediensteten samt Küchenchef beim Fest wirken zusammen, handeln menschlich – und Gott ist ganz nah.
Und das ist erst der Anfang!
So erzählt Johanna. Aber hat sie vielleicht etwas übertrieben? Dass dieses Wasser jetzt der bessere Wein ist… - werden die Gemeindeglieder, die noch vor ein paar Jahren am sechsten Januar das Weinwunder des griechischen Gottes Dyonisos gefeiert haben, sich über diese Pointe freuen oder eher ärgern? Und sind sechs Steinkrüge – immerhin 480 bis 600 Liter – nicht doch zu viel des Guten? Wird das nicht wieder aufgeregte Debatten über die Moral der Jesusleute & die Gefahren des Alkohols zu Folge haben? Und soll das wirklich das erste Zeichen sein, mit dem Jesus den Anfang des Gottesreiches sichtbar macht? Wäre nicht die wundersame Brotvermehrung ein besserer Anfang? Ist das tägliche Brot nicht viel wichtiger als der Wein für die Festtage? Johanna kaut auf dem Ende ihrer Schreibfeder. Sie kann sich nicht entscheiden. Aber das muss ja auch gar nicht. Die Gemeinde wird entscheiden, welches Zeichen Jesu als erstes erzählt wird. Warum soll sie, Johanna, denn alleine entscheiden, wenn Jesus selbst sich auch immer Mitarbeiter_innen gesucht hat.
Und jetzt alle!
Jesus nachfolgen heißt: als Gemeinschaft zu entscheiden, demokratisch; das ganze Leben zu einem Fest zu machen, gerade wenn die Armut in der Gemeinde wächst; als Diener_in der anderen zu leben & gemeinsam Abhilfe zu schaffen, wenn jemand in Not ist. Jesus nachfolgen heißt auch: Maria nachzufolgen, sich nicht mit Verströstungen auf eine ferne Zukunft oder das Jenseits abspeisen zu lassen, sondern jetzt in Gottes Geist zu handeln. Jesu Stunde ist noch nicht gekommen? Maria sieht das anders. Wann, wenn nicht jetzt soll denn die Stunde Jesu sein? Wenn ich in meiner Zeit mit dem, was ist, am Fest des Lebens teilhabe & die Not lindere, dann wird das Reich Gottes hier & jetzt Wirklichkeit. Das ist die Politik der Bibel: die Fülle des Lebens ist für alle da. Nicht in der verlogenen Form, dass die Partei immer recht hat, sondern in kritischer Auseinandersetzung. Und in der Frage: Was kann ich jetzt tun? Johanna erinnert daran. Wenn ich das, was ist, teile, wird nicht nur Wasser in Wein verwandelt, sondern aus Zweifel kann Vertrauen wachsen & in Sorge Freude entstehen. Das könnten wir doch auch gebrauchen. Am Ende erinnert mich die Geschichte an ein Lied von früher: „Was sollen wir trinken, sieben Tage lang? … es ist genug für alle da! Wir trinken zusammen… Dann wollen wir kämpfen, keine weiß, wie lang, ja für ein Leben ohne Zwang!“ Was für ein Fest! Was für ein Zeichen am Anfang der Jesusgeschichte! Mir macht es Mut. Amen.
Predigt zur Jahreslosung – Anfang Januar 2021
Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
(Jahreslosung 2021)
Lesung
Im Evangelium nach Lukas (6, 35 – 38) sagt Jesus: Liebt eure Feinde. Tut Gutes und leiht, ohne etwas dafür zu erhoffen. Euer Lohn wird groß sein und ihr werdet Kinder des Höchsten sein, denn Gott ist gütig gegenüber undankbaren und bösen Menschen. Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Richtet nicht, dann werdet ihr auch nicht gerichtet. Verurteilt nicht, dann werdet ihr auch nicht verurteilt. Sprecht frei und ihr werdet freigesprochen. Gebt und euch wird gegeben – was dann in euren Schoß fallen wird ist wie ein gutes Maß Getreide: voll gedrückt, gerüttelt, überfließend. Mit dem Maß, mit dem ihr messt werdet im Gegenzug ihr gemessen.
Predigt
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Jesusworte sind uns für dieses Jahr mitgegeben. Manche sagen: alte Worte. Wer spricht schon von Barmherzigkeit? Aber müssen wir davon sprechen? Oder geht es nicht viel mehr darum, in die Bewegung der Barmherzigkeit einzutauchen?
Zwischenmenschliches
In dem Zusammenhang, in dem die Jahreslosung im Lukasevangelium überliefert wird, geht es um Zwischenmenschliches, darum, wie Gott zwischen den Menschen wirkt. Gott mit Herz & Hand: Liebt eure Feinde, tut Gutes… Jesus erzählt davon, was dann passiert: Gutes. Die Liebe bringt in Bewegung: das Gut, das Gutes bewirkt. Die Liebe bringt in Bewegung, macht gütig … und sie geht auch an den Bösen nicht vorbei. Gott verschenkt sich auch an die Undankbaren. Die Liebe hört nicht auf zu wirken, sie fließt über von Gott zu den Menschen & allen Geschöpfen, von Geschöpfen & Menschen zu anderen im Kreislauf des Lebens.
Bewegung
Barmherzigkeit ist in Bewegung, fließt über; Erbarmen & Mitgefühl fließen über, bewegen etwas in der Welt. In den alten Worten der Bibel klingen viele Bedeutungen mit. Nächstenliebe, Mitgefühl, Erbarmen, Feindesliebe - im Überfluss gibt Gott von sich, damit wir barmherzig werden. Damit es warm wird es in den Herzen, wo Gott einzieht, um da zu wohnen – wie das Kind in der Krippe.
Überfluss
Im Überfluss gibt Gott von sich & fließt über alles, durch alles, auch durch uns. Und wie das Wasser uns reinigt & belebt, macht Gottes Liebe, Mitgefühl, Erbarmen & Barmherzigkeit uns barmherzig. „Werdet“ barmherzig, ließe sich das „seid“ barmherzig auch übersetzen; sachgemäß ist es auch so zu verstehen: Gottes Barmherzigkeit lässt barmherzig werden. Ich muss es nicht tun, muss mich nicht anstrengen dafür. Es geschieht. Es sei denn, ich ziehe wie eine Regenjacke eine barmherzigkeitsabweisende Schutzschicht über… Das Angebot ist groß. Es wird mit Angst beworben. Gott aber bleibt barmherzig, fließt über & über, ist Quelle & Meer, regnet über Gute & Böse.
Gut & Böse
Gut & Böse. Die aktuellen Meldungen aus der Welt fordern vielleicht gerade zu Barmherzigkeit auf. Es geht um Mitgefühl & Verständnis. Die größte Herausforderung scheint zu sein Abgrenzungen & Ausgrenzungen zu überwinden, statt auf die vermeintlich Bösen mit dem Finger zu zeigen & zu sagen „die da“, während „die da“ sich an dem Wir-Gefühl erwärmen, das auch unter (vermeintlich) Ausgegrenzten entstehen kann. Aber ist das barmherzig? Leben dieses Lagerdenken & das Lagerfeuergefühl im Überfluss? Die Protestbewegungen, die sich um Verschwörungsideologien sammeln – sei es im Trumpismus, in der Ablehnung von Corona-Schutzmaßnahmen oder der Verweigerung von Humanität gegenüber Geflüchteten – leben doch eher aus dem Mangel an Teilhabe, Mangel an Austausch.
ZuMUTung
Was für eine Zumutung ist es, in einer Welt, in der „die Anderen“ als ständige Bedrohung oder Konkurrenz erlebt werden, barmherzig zu sein; die Bedürfnisse der anderen zu erkennen, anzuer-kennen!? Doch genau dazu fordert Jesus auf: liebt eure Feinde, werdet barmherzig, gebt im Überfluss. Weil er vom Hunger weiß, empfiehlt Jesus das – vom Hunger nach Brot & vom Hunger nach Liebe. Und weil er von der Macht der Liebe weiß, die sich im Überfluss verschenkt, wo Mangel ist. Diese Bewegung kann die Welt verwandeln, weiß Jesus. Diese Bewegung verzichtet auf Gewalt, die immer nur neue Gewalt erzeugt. Das ist eine Wahrheit der Physik. Mit dem Wissen der Physik und dem Mut zur Barmherzigkeit können Gewalt und Ausgrenzung überwunden werden.
In der Mitte
Barmherzigkeit. In der Sprache Jesu hat diese Regung - wie alle Regungen – im Körper einen Raum: die Nase ist der Zorn, die Kehle die Seele, im Herz hat das Denken seinen Raum, die Gefühle in den Nieren… & das Erbarmen, das Mitgefühl, die Barmherzigkeit hat im Unterleib Raum, wächst in der Gebärmutter, bewahrt & vermehrt sein Wesen in Keimzellen - immer neu, immer treu dem Wesen der Liebe, der Barmherzigkeit von Generation zu Generation fließt Gottes Barmherzigkeit über, wird Gott Mensch, stellt seine Krippe in unserer Mitte auf.
Von Herz zu Herz
Gott verschenkt sich. Gott atmet aus – wir atmen ein. Gott nimmt uns mit hinein in die Bewegung seiner Liebe. Gott beschenkt sich, lächelt, breitet sich aus wie Licht; fragt nicht nach gut oder böse, hüllt auch die Irregegangenen ein, barmherzig & liebevoll. Barmherzig, ein Ebenbild Gottes wird, wer sich berühren lässt. Wo Leid ist, lässt Gott sich berühren, fließt Gottes Barmherzigkeit über von Herz zu Herz zu Herz, das Leid zu lindern. Wo Glück ist, lässt Gott sich berühren, fließt Gottes Barmherzigkeit über von Herz zu Herz zu Herz, das Glück zu teilen im Überfluss. Gott ist die Quelle, Gott ist das Meer; das Dazwischen ist Gott, in Bewegung. Gott ist die Fülle, fließt über, verströmt sich, bewässert die Wüsten, lässt Gärten aufblühen, lässt Hartherzige barmherzig werden.
Nähe
Berühre mein Herz mit deiner Barmherzigkeit, Gott. Sei ganz nah! Bewege & verwandle mich durch deinen Überfluss, bring mich in den Fluss, bring mich ins Fließen - mit Tränen der Trauer, der Freude, der Rührung. Lass mich Menschen nahe sein, denen in Trauer, in Freude, berührt von der Zärtlichkeit deiner Barmherzigkeit; berührt von der Macht der Vergebung; der Liebe, die heil macht. Berühr mich mit deiner Barmherzigkeit, die mich barmherzig macht. Amen.
Fürbitten
Du bist barmherzig, Gott. Du verströmst deine Liebe, gibst Licht & Segen, gibst uns Raum & Zeit, barmherzig zu werden.
Lass uns barmherzig werden, wo Menschen in anderen Feinde sehen. Lass uns einander als Menschenkinder sehen, als deine Kinder.
Sei mit deiner Barmherzigkeit bei den Geflüchteten, die ihre Heimat verloren haben, deren Würde missachtet wird, die im Elend leben.
Sei mit deiner Barmherzigkeit bei denen, die durch Erdbeben das Dach über dem Kopf, den Boden unter den Füßen & das Vertrauen in die Regierenden verloren haben.
Lass uns barmherzig werden & für Solidarität streiten, Gesundheitsversorgung für alle ermöglichen, die nicht auf Kosten der Pflegenden geht; um gute Ernährung ringen, die nicht auf Kosten von Gärtnern, Bäuerinnen oder der Natur geht.
Sei mit deiner Barmherzigkeit bei denen, die verfolgt werden, weil sie sagen, was ist; lass uns barmherzog sein und denen beistehen, die verfolgt werden.
Sei mit deiner Barmherzigkeit bei denen, die unter Krieg & Gewalt leiden. Lass uns barmherzig werden, mitfühlen & im Miteinander Wege der Versöhnung & der Gerechtigkeit finden.
Gemeinsam beten wir mit den Worten Jesu: Vaterunser